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Die Birke. Gedanken zum Birken-Katalog von Elisabeth Ochsenfeld.
Als Max Liebermann sich 1909 sein Sommerhaus am Berliner Wannsee erbauen
ließ, waren die von ihm so geschätzten Birken schon da und schienen nur darauf
zu warten, in die Gestaltung seines Gartens einbezogen zu werden. Heute
leben sie in vielen seiner Bilder weiter. Auch die Mitglieder der Worpsweder
Künstlerkolonie, Paula Moderson-Becker, Otto Moderson und Heinrich Vogeler
wählten die Birke als häufiges Sujet. Der helle Stamm und die zarten Blätter
mögen als Zeichen des Aufbruchs ein willkommener Gegensatz zur nicht nur von
Kaspar David Friedrich viel zitierten, eher dunklen deutschen Eiche dargestellt
haben. Birken sind ‚internationale‘ Bäume, ihre hohe Anpassungsfähigkeit steht
einer ideologischen Deutung eher entgegen.
Ungefähr vierzig Birken-Arten kommen in Europa und Nordamerika, in Asien,
auf der gesamten nördlichen Halbkugel vor. Birken stellen wenig Anforderungen
an Boden und Klima, sie gedeihen auf nassem wie auf trockenem Grund, in
Heidegebieten, auf Dünen und im Moor. Sogar in den Städten, auf Mauerresten.
Birken bevorzugen das Licht. Anders als die Eiche, der Ölbaum, oder andere
Bäume, stellt die Birke dabei keine Ansprüche an die Ewigkeit. Sie erscheint überall
und immer, sie pflanzt sich selber fort. Birken sind wahre Pionierpflanzen.
Ihr Name ist in beinahe allen germanischen Sprachen vertreten und stammt
vermutlich von dem indogermanischen Begriff
b’erag
ab, was man mit
glänzend
übersetzen könnte. Auffallend ist der starke Wechsel von der hellen, bis ins
reine Weiß changierenden Rinde hin zu den dunkleren, oft bis ins Schwarze
gehenden Teilen der Borke. Es scheint, als könne dieser typische Helldunkel-
Kontrast zwiespältige Gefühle beim Menschen auslösen.
Meine frühesten Erinnerungen an Birken beziehen sich auf neun Bäume im
Oberstdorfer Garten meiner Eltern. Als schnellwachsende Bäume wurden sie
gepflanzt, um die möglicherweise neugierigen Blicke der zahlreich an unserem
Grundstück vorbei spazierenden Menschen abzuwehren. Für mich als kleinen
Jungen stellten diese Birken ein Wäldchen dar, das ich als hell, licht und freundlich
empfand, wohl auch durch den Gegensatz zu den hohen, schroffen und bis zur
Baumgrenze hin meist von dunklen Nadelhölzern bewachsenen Bergen meiner
Allgäuer Heimat. Ein besonderer Reiz ging von der permanent abblätternden
Rinde der Bäume aus, die mich an Papier erinnerte. Diese Rindenstücke zu
lösen, sich anzueignen, erweckte einen gehörigen Zwiespalt der Gefühle
in mir, stellte es doch einen durchaus gewalttätigen Eingriff in eine Ordnung
dar. Vergleichbar dem Abzupfen von Tapete in unserem Kinderzimmer, einer
damaligen Vorliebe meiner Schwester. Wand wie Baumstamm blieben verletzt
Stefan Hohenadl
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